petra paul

et al.


der text wurde anlässlich der eröffung der ausstellung „kontravention” der bildhauereiklasse der universität für angewandte kunst/gerda fassel am 1. dezember 2003 in der galerie aRtmosphere vorgetragen.

 

paula betrat überglücklich ihre neue wohnung. endlich besaß sie eine neue bleibe ganz für sich allein, nachdem sie jahrelang in einer wohngemeinschaft mit drei weiteren frauen gelebt hatte. die strapazen des umzugs hatten sie ermüdet, aber trotzdem begab sie sich in die räumlichkeiten darunter - ihr atelier. nach abschluss ihres studiums der bildhauerei brauchte sie platz, raum für ihre arbeiten. vorher konnte sie noch in der klasse der universität arbeiten, hatte ihre ecke für sich, wo sie ihre überlebensgroßen plastiken und skulpturen schuf, aber nach abschluss des diploms musste sie dort ausziehen. sie brauchte räumlichkeiten für ihre bereits bestehenden arbeiten sowie für ihr zukünftiges werk.

paula hatte kalk gekauft und begann nun die wände aus ziegeln in ihrem eigenen atelier mit einem großen pinsel zu bemalen. der pinsel streifte über die wand und bespritzte ihren körper. sie ging mit kalk um als wäre er dispersionsfarbe, als hätte sie keine ahnung von diesem material, was ihr erst am nächsten tag bewusst wurde. der kalk hatte sich durch kleine wunden unter die haut ihrer hände gefressen und diese verätzt. mit handschuhen bewaffnet begab sie sich am nächsten tag wiederum ins atelier. spritzer im auge brannten zwar, aber das verging wieder. ein treffer ins ohr beim bemalen der decke dagegen verursachte enorme schmerzen, die andauerten. hammer und amboss im ohr, die verletzt werden könnten, erinnerten sie aber wieder an ihre eigene arbeit als bildhauerin, worauf sie sich ohne rücksicht auf verluste - sei es auch nur ein ohr - in die arbeit stürzte. je eher sie fertig war, desto früher konnte sie ihre geschaffenen kinder nach hause holen und selbst weiterarbeiten, neue plastiken modellieren.

paula ging nur mehr zum schlafen in ihre wohnung. essen besorgte sie beim greisler nebenan. vom kochen, fernsehen, cd-hören, lesen bis hin zu freundInnen treffen war keine rede mehr. freundInnen konnten sie nur mehr zu hause begegnen - nein, nicht einmal zu hause, sondern im atelier. paula fühlte sich aber immer wieder gestört von diesen besuchen - hielten sie diese doch von ihrer arbeit ab. der boden musste noch in zwei räumen gestrichen, ein holzboden im dritten raum, im modellierraum, verlegt werden. sie war froh, in ruhe gelassen zu werden, sich mit kaffee wachzuhalten und scheinbar ohne ende zu arbeiten, um endlich zeit für ihr künstlerisches werk, das sie machen musste, zu haben. skulpturen, plastiken, oder einfach die skizzenhaft angedeuteten ideen auf einem blatt papier wollten aus ihrem körper platzen, drängten zur befreiung aus dem inneren über ihre hände. sie musste das atelier so schnell wie möglich bezugs- und arbeitsfertig gestalten.

als endlich alles fertig war, stand der auszug aus der bildhauerklasse bevor. ein paar starke männer standen ihr zur seite und halfen die schweren teile zu ihrem vorübergehenden ziel, dem atelier, zu bringen. der umzug dauerte einen ganzen tag lang. sie empfand den tag als vergeudet, da doch ihre eigene arbeit aus ihr drängte zum ausbruch.

endlich war es soweit. ein raum zur lagerung, ein raum zum abgießen der figuren und der modellierraum waren fertig eingeräumt. die aufregung, der schaffensdrang ließen sie am nächsten morgen bereits um sechs uhr erwachen. mit einer thermoskanne kaffee begab sie sich in ihr atelier und begann, ein gerüst aus holz und eisen zu bauen und flüchtig hingeworfene striche zu papier zu bringen. sie verknüpfte linien und vernetzte flächen. der bleistift, das sanfte schwert, begriff die formen. zeichnen war für paula ein suchen, erfinden, ein erster weg, gedanken sichtbar zu machen, die dann in einer plastik mündeten.

judith wagner, zeichnung, 29.1.05 (© judith wagner)

paula wollte eine liegende aus ton modellieren. wochenlang arbeitete sie daran - tastete sich zögernd wie im dunkeln an das thema heran. sie legte sich immer wieder nackt vor einen spiegel, um die formen zu studieren. ein zweiter spiegel ließ sie auch ihren körper von hinten betrachten. zaghaft versuchte sie das gesehene transformiert darzustellen.

offene, ausgreifende bewegung im detail antwortete auf eine ruhe im gesamten.

abschattierungen der form, zahllose kleine flächen, bewegt ineinander übergehend, die bewegung weiterleitend.

tonmasse als bewegtes zeichen.

nichtsagbares gewann an gestalt. geist und form sollten übereinstimmen. nach fertigstellung des tonmodells wurde die liegende abgegossen. sie fertigte eine negativform für den abguss des gipspositivs. gussnähte und poren als folge eingeschlossener luft verfremdeten das positiv des ursprünglichen tonmodells. mit einer raspel bearbeitete sie den gips. paula war mäßig zufrieden mit dem ergebnis. immer wieder ging sie um die figur und betrachtete sie von allen seiten. das gewisse etwas, das sie ausdrücken wollte, fehlte der gipsfigur. sie versuchte mit etwas bräunlicher farbe das resultat zu verbessern, aber die farbe entfernte die plastik vom inneren bild noch mehr. paula war verzweifelt und wollte sich dem problem entziehen, indem sie den greisler aufsuchte, um essen einzukaufen. ihr fiel eine frau, die vor ihr bedient wurde, auf. unter normalen umständen hätte sie diese frau, die ihr in die augen blickte, sofort angesprochen. sie empfand eine tiefe lust, diese frau zu berühren, zu liebkosen, mit ihr zu schlafen. die arbeit im atelier ließ sie aber schweigen. anstatt einen warmen menschlichen körper anzufassen, zog sie reaktionen einer trägen, grauen masse auf ihre berührungen vor.

paula eilte zurück ins atelier, ohne sich essen gekauft zu haben und machte kleine tonmodelle von liegenden.

judith wagner, handfigur

wie eine große erkenntnis schoss es durch ihren kopf: sie brauchte ein modell. da konnte sie gleichzeitig schauen und mit ton das gesehene umsetzten. eine freundin erklärte sich bereit, täglich drei stunden modell für sie zu liegen. paula baute ein neues gerüst und während die tonfigur wuchs, studierte sie das grundgesetz des lebendigen. sie gab ton auf ton, löste ihn aber wieder unzufrieden und aggressiv ab, peitschte den ton, versuchte wochenlang verbissen fast tag und nacht diese figur aus sich herauszupressen.

widerspenstige figur als widerstand.

rasche entscheidungen und geduldiges verharren vor dem wachsenen werk wechselten ab. immer wieder betrachtete sie ihre arbeit von allen seiten und versuchte harmonische formen zu gestalten. mit der zeit wurde sie immer zufriedener mit dem resultat. formal abstrahiert lag nun eine tonfigur mit angedeuteter vulva, aber ohne darstellung der brüste vor ihr. ein hermaphodit war entstanden - paula taufte diese figur hermaphrodite. runde formen standen gegen kantige, rauhe gegen glatte. lebendig die oberfläche überlaufendes spiel zwischen licht und schatten. wie ein gedicht, wie ein musikstück hatte sie diese plastik komponiert. details sind das kleine maß für den gesamteindruck. wieder goss sie die figur ab. diese plastik kam dem, was sie ausdrücken wollte schon näher, traf es aber noch nicht ganz.

paula baute zwei gerüste und arbeitete gleichzeitig an zwei liegenden. dieses mal ohne modell, sie wollte rein das innere bild, das in ihr eintätowiert war, in ton umsetzen. unermüdlich arbeitete paula und schuf eine plastik nach der anderen.

kompositionen aus geometrie und chaos.

bei jedem neuen versuch kam sie einen schritt weiter. immer näher kam sie dem bild, das sie ausdrücken wollte. immer mehr figuren stapelten sich mit der zeit um sie.

jede liegende ein eigener kosmos.

judith wagner, die liegende

zwischen den statischen kunstwerken aus gips bewegte sich zwischen ihnen zusehends verlierend paula. jede weitere plastik verkleinerte paula, die nun schon beinahe unauffindbar zwischen den figuren hantierte. sie arbeitete und arbeitete und ging nun nicht mal mehr zum schlafen in ihre wohnung. sie übernachtete in ihrem schlafsack auf einer ausgehängten türe im gipsraum. paula arbeitete sich im wahrsten sinne ein, denn nun konnte sie nicht mal mehr ihr atelier verlassen. sie hatte so viele figuren geschaffen, dass sie gar nicht merkte, dass sie sich selber einschloss. rund um paula standen an die zehn liegende und kreisten sie ein. den schmalen gang, den sie zur tür frei lassen wollte, verstellte sie mit der letzten liegenden figur. paula war erschöpft.

sisyphos mit lähmungserscheinungen.

sie fühlte sich wie ein felsblock, der die figur nicht freigab, obwohl sie klar sichtbar auf der oberfläche erschien. die uhr zeigte bereits die morgenstunden an. paula legte sich hin und schlief. während ihres unruhigen schlafes wälzte sie sich im schlafsack hin und her und für einen kurzen augenblick - für einen bruchteil einer sekunde - repräsentierte sie die figur der liegenden, nach der sie die ganze zeit gesucht hatte.